Heidelberger Geschichtsverein e.V.

www.haidelberg.de

Aus Johann Wolfgang von Goethes Rezension des 1. Bandes von Des Knaben Wunderhorn, herausgegeben 1806 von Achim von Arnim und Clemens Brentano bei Mohr & Zimmer in Heidelberg

(erschienen am 21. und 22. Januar 1806 in Nr. 18 und 19 der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung)

„Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit so viel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Theilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.

Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Clavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen, oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken. Würden dann diese Lieder, nach und nach, in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie, allmälich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Theil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.

Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurtheilt und gestritten wird: so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegen wirken soll.

Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Theile derselben durchaus mannichfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweyhundert Gedichte aus den drey letzten Jahrhunderten, sämmtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt von einander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingiebt, zu charakterisiren.

(...)

Mit dieser Charakterisirung aus dem Stegreife: denn wie könnte man sie anders unternehmen? gedenken wir Niemand vorzugreifen, denen am wenigsten, die durch wahrhaft lyrischen Genuß und ächte Theilnahme einer sich ausdehnenden Brust viel mehr von diesen Gedichten fassen werden, als in irgend einer lakonischen Bestimmung des mehr oder minderen Bedeutens geleistet werden kann.

Indessen sey uns über den Werth des Ganzen noch Folgendes zu sagen vergönnt. Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk, noch fürs Volk gedichtet sind, sondern weil sie so etwas Stämmiges, Tüchtiges in sich haben und begreifen, daß der kern- und stammhafte Theil der Nationen dergleichen Dinge faßt, behält, sich zueignet und mit unter fortpflanzt - dergleichen Gedichte sind so wahre Poesie, als sie irgend nur seyn kann; sie haben einen unglaublichen Reiz, selbst für uns, die wir auf einer höheren Stufe der Bildung stehen, wie der Anblick und die Erinnerung der Jugend fürs Alter hat. Hier ist die Kunst mit der Natur im Conflict und eben dieses Werden, dieses wechselseitige Wirken, dieses Streben scheint ein Ziel zu suchen und es hat sein Ziel schon erreicht.

Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet, mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik, oder was sonst will, entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht, und wirkt selbst im dunkeln und trüben Elemente oft herrlicher, als es später im klaren vermag. Das lebhafte poetische Anschauen eines beschränkten Zustandes erhebt ein Einzelnes zum zwar begrenzten doch unumschränkten All, so daß wir im kleinen Raume die ganze Welt zu sehen glauben. Der Drang einer tiefen Anschauung fordert Lakonismus; was der Prose ein unverzeihliches Hinterstzuförderst wäre, ist dem wahren poetischen Sinne Nothwendigkeit, Tugend, und selbst das Ungehörige, wenn es an unsere ganze Kraft mit Ernst anspricht, regt sie zu einer unglaublich genußreichen Thätigkeit auf.

Durch die obige einzelne Charakteristik sind wir einer Classification ausgewichen, die vielleicht künftig noch eher geleistet werden kann, wenn mehrere dergleichen, ächte, bedeutende Grundgesänge zusammengestellt sind. Wir können jedoch unsere Vorliebe für diejenigen nicht bergen, wo lyrische, dramatische und epische Behandlung dergestalt in einander geflochten ist, daß sich erst ein Räthsel aufbaut, und sodann mehr oder weniger, und wenn man will, epigrammatisch auflößt. Das bekannte: Dein Schwerdt, wie ist's vom Blut so roth, Eduard, Eduard! ist besonders im Original das Höchste, was wir in dieser Art kennen.

Möchten die Herausgeber aufgemuntert werden aus dem reichen Vorrath ihrer Sammlungen, so wie aus allen vorliegenden schon gedruckten, bald noch einen Band folgen zu lassen, wobey wir denn freylich wünschen, daß sie sich vor dem Singsang der Minnesinger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger, so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen höchlich hüten mögen. Brächten sie uns noch einen zweyten Theil dieser Art deutscher Lieder zusammen, so wären sie wohl aufzurufen, auch was fremde Nationen, Engländer am meisten, Franzosen weniger, Spanier in einem anderen Sinne, Italiäner fast gar nicht, dieser Liederweise besitzen, auszusuchen, und sie im Original und nach vorhandenen oder von ihnen selbst zu leistenden Übersetzungen darzulegen.

Haben wir gleich zu Anfang die Competenz der Kritik, selbst im höheren Sinn, auf diese Arbeit gewissermaßen bezweifelt: so finden wir noch mehr Ursache, eine sondernde Untersuchung, in wiefern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig ächt, oder mehr und weniger restaurirt sey, von diesen Blättern abzulehnen. Die Herausgeber sind im Sinne des Erfordernisses so sehr, als man es in späterer Zeit seyn kann, und das hie und da seltsam Restaurirte, aus fremdartigen Theilen verbundene, ja das Untergeschobene, ist mit Dank anzunehmen.

Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes, und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, mit anderen zusammenstellt, nicht auch ein gewisses Recht daran haben? Besitzen wir doch aus früherer Zeit kein poetisches und kein heiliges Buch, als insofern es dem Auf- und Abschreiber solches zu überliefern gelang oder beliebte.

Wenn wir in diesem Sinne die vor uns liegende gedruckte Sammlung dankbar und läßlich behandeln, so legen wir den Herausgebern desto ernstlicher ans Herz, ihr poetisches Archiv rein, streng und ordentlich zu halten. Es ist nicht nütze, daß alles gedruckt werde; aber sie werden sich ein Verdienst um die Nation erwerben, wenn sie mitwirken, daß wir eine Geschichte unserer Poesie und poetischen Cultur, worauf es denn doch nunmehr nach und nach hinausgehen muß, gründlich, aufrichtig und geistreich erhalten.“