Mittwoch, 30. 10. 1940
Adresse: Camp de Gurs, Basses Pyrénées, France.
Lieber Muri:
„Es fließt Alles von mir ab wie großer Regen.“
Es ist mein Schicksal, daß Alles, was ich prophetisch klangvoll gedichtet habe (zum „ästhetischen“ Genuß der Deutschen), ich später in grausamer Realität erleben muß. Mit kurzen Worten - vielleicht haben die Zeitungen schon berichtet -:
„Es floß Alles von mir ab.“ Oder: „Ich floß von Allem ab.“ Die „Halle“, die schöne, ist gänzlich aufgeflogen. Abgesehen von einigen Köfferlein und Paketen, die zum Teil mit mir ankamen, mußte Alles zurückbleiben. Die ganze Bibliothek, etc. etc., auch meine Manuskripte und alle Briefwechsel etc. etc. Also: „Alles“. Wohnung versiegelt durch Gestapo. Mitnahme von sage 100 RM (die in französische Franken gewechselt wurden) war gestattet. Ich mit meiner Schwester (72 Jahre alt) samt der gesamten jüdischen Bevölkerung Badens und der Pfalz (wahrscheinlich auch von anderen Gebieten) samt Säugling und ältestem Greis (auch Kranke) ohne vorherige Ankündigung binnen einiger Stunden zunächst auf Lastwagen zum Bahnhof und dann mittelst Extrazugs abtransportiert („entrückt“). Via Marseille-Toulouse zu den Basses Pyrénées, nahe der spanischen Grenze, in ein großes Internierungslager (Camp de Gurs). Bei dem riesigen und ganz plötzlichen Menschendrang die Verhältnisse sehr schwierig und primitiv; kaum etwas zu kaufen. Ganz leichte Holzbaracken bei nächtlich kalter Witterung. Jedoch gute Luft (700 m Höhe). Man gibt sich anerkennenster Weise große Mühe, zu bessern, soweit möglich. Meine Schwester (72 Jahre alt) ist bei mir, aber getrennt in anderen Baracken. Die Zukunft ist völlig dunkel.
Wie lange wird dieser Zustand dauern können? Wie lange wird man unter den gänzlich ungewohnten primitiven Verhältnissen durchhalten können?
- Ob Ähnliches je einem deutschen Dichter passiert ist? –
Eine spätere Rückkehr nach Deutschland ist wohl ausgeschlossen nach dem, was sich ereignet hat. Ich kann heute keine Schilderung geben, sondern möchte Muri, den alten treuen Helfer bitten:
1) den Rettungswagen nach Deutschland, der so oft und dankbar empfangen wurde, sofort abzustoppen, da alles weggenommen wird, ich also nichts erhalte.
2) Meine Hauptbitte ist, Muri der Alte möchte sich möglichst bald mit Erfahrenen in der Schweiz in Verbindung setzen mit dem Ziel, daß mir und meiner Schwester die Einreise in die Schweiz gestattet wird. Sollte die Schweiz dem Dichter, der so viele Jahre als begeisterter Gast auf ihrem Boden weilte und ihre Berge wie kein anderer besungen hat, ihre Tore verschließen? Sei es auch zunächst nur für begrenzte Zeit.
3) Möchte ich bitten, Dr. Richard Benz, sowie dem Majordomus Ludwig Jahn meine jetzige „Adresse“ mitzuteilen. Direkt ihnen zu schreiben, ist Umstände halber nicht rätlich. Ebenso bitte kurze Nachricht an Dr. Friedrich K. Benndorf, und auch an E. R. Weiß (mit Vorsicht).
zu 2): Braucht man Referenzen, so wäre vielleicht Professor Faesi in Zürich, vielleicht Hermann Haller, vielleicht Gamper anzugehen. Mein letzter Verleger Salman Schocken sagte mir bei Kriegsausbruch, falls ich in die Schweiz kommen könnte, Hilfe zu. Zur Zeit ist er mir unerreichbar.
Vor der „Abreise“ konnte ich Benz noch kurz in Kenntnis setzen, und was er dort tun kann, wird er sicher tun. Aber es wird wohl sehr wenig sein. Das eigentliche MS meiner letzten Dichtung („Sfaira der Alte in den Welten“) scheint in einem Koffer verloren gegangen zu sein; doch besitze ich den größten Teil in MS Konzept. (Sfaira der Alte II. Teil).
Wann werde ich einmal etwas von Muri hören? Der Weg ist frei, und wohl kaum eine Zensur da.
Mein einziges Labsal hier ist der Anblick der hohen Pyrenäenkette mit teilweise verschneiten Gipfeln. Freilich habe ich vorher den Berg Moira gesichtet, der mehr war.
„Ehe denn die Berge waren“.
Mein Gruß der alten Schweiz, und Kareol, und Muri, dem Getreuen. Ich erhoffe eine rettende Gletscherspalte! „Hier dreht sich Aeons ewiger Welten-Gang.“
Die schönsten Grüße
von Sfaira dem Alten
(aus: Alfred Momberts Briefe 1893-1942. Heidelberg 1961, S. 144f.)