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Theodor Heuss, DIE BESETZUNG VON HEIDELBERG

Beim „Einholen“ Donnerstag [29. 3. 1945] früh erfuhr ich, daß gerade die Hindenburgbrücke gesprengt war, von der am Nachmittag zuvor versichert, sie sei sozusagen vertraglich ausgenommen. In der Stadt traf ich Rassow. Er erzählte, die „Alte Brücke“, die gar keine schwere Belastung vertrage, werde doch wohl gerettet werden; sie sei durch Steinklötze jetzt schon, auch für den Zivilverkehr, nicht passierbar. Am Mittwochnachmittag, beim Gespräch mit Andreas, erzählte dessen Tochter, der Zellenwart gehe zu den Parteileuten mit dem Rat, die Hakenkreuzfahnen und die Parteiliteratur zu vernichten.

Mittwoch [28. 3.] hatte man auf Mangelwarenkarte Leberwurst, 200 g Teigwaren, ¼ Butter erhalten, Donnerstag auf den Kopf 1 Pfd. Butter; die Vorräte, nicht mehr abtransportierbar, sollten nicht beschlagnahmt werden können. Allerhand ähnliche Sachen wurden in Aussicht gestellt, Wein, Öl. Am Mittwoch und Donnerstag je 2 Stunden, z.T. im Regen „angestanden“. Derweilen knallte es immer, aber man nahm es nicht so ernst. Flieger waren in den letzten Tagen ganz weggeblieben; man vermutete sie am Niederrhein beschäftigt. Es war in den letzten 2 Tagen stärker Militär mit Wagen in Handschuhsheim, Drähte wurden durch die Gassen gelegt, in einer Villa der Bergstraße gab es einen Divisionsstab.

Am Donnerstag [29. 3.] 12 Uhr unter den kurzer Tagesmeldungen des Radios die Nachricht, daß die alliierten Panzertruppen sich Münster, Kassel und Nürnberg nähern. Um ½1 Uhr nur Militärdetails und alberne Glossen zur Lage über amerikanische Propaganda. Als ich um 2 Uhr den Heeresbericht hören wollte, fehlte der Strom. Gas seit voriger Woche nicht mehr. Auch das Wasser setzt aus, aber nach einigen Stunden kommt es wieder. Mit dem Versagen des Stromes beginnt die Zeit der Nachrichtenlosigkeit; kein Licht, keine Kochgelegenheit. Die Zeitung war am Donnerstag noch einmal erschienen; ich sah sie in der Stadt angeschlagen. „Kampffeld Mannheim-Bergstraße“ „Jetzt Ruhe und Besonnenheit“. Der Leitaufsatz beginnt: „Heidelberg ist Frontstadt“. Leider wurde das Blatt auf unserer Neckarseite nicht mehr ausgetragen, so daß ich von dem Abschiedsaufsatz keinen Eindruck bekam.

Die militärische Lage der Nähe bleibt für unsereins undurchsichtig. Gerüchte: Bei Ladenburg sei der Neckar überquert. Oder: Feindkolonnen von Weinheim nach dem Neckar bei Hirschhorn. Am Donnerstag [29. 3.] sieht man, daß die Drahtleitungen wieder verschwunden. Der Divisionsstab ist weg. Wird Heidelberg „verteidigt“? Man erfährt: „mit schwachen Kräften“. Von Vorbereitungen in der Richtung Dossenheim, an der Straße, ist nichts bemerkbar. In den „Feldern“ stehen wohl noch Geschütze. Aber der Militärbetrieb, der in Handschuhsheim nie sehr kriegerisch aussah - viel herumstehende Soldaten, meist ohne Waffen -, ist am Donnerstag viel geringer geworden. In der Nacht scheint die Mehrzahl wegverlegt zu sein.

Wir übernachten nicht im Keller, sondern angezogen im Parterre. Das Schießen dauert so bis gegen 12 Uhr. Als ich um ½8 Uhr in das Dorf gehe, sag die Nachbarinnen: Die Amerikaner sind da. Am Kapellenweg überzeugte ich mich: Es ist nicht bloß ein Gerücht. Ich seh mir ein paar Wagen an. Sehr verschiedene Typen: Der erste sah aus wie ein bebrillter deutscher Studienreferendar. Auch müde Gesichter. Die Wagen rollen sehr glatt, mit weniger Geräusch als die deutschen. Bei diesem Gang erfahre ich auch, daß die nächtliche Brückensprengung auch die Friedrichsbrücke und die Alte Brücke vernichtet hat. Das ist wohl eine der sinnlosesten Entscheidungen. Zwar ist dies noch nicht sicher zu erfahren, ob das Südufer des Neckars bei Ladenburg sicher schon erreicht war. Aber man hat sich nicht damit begnügt, einen Bogen zu zerstören, sondern alle Pfeiler, bei der Alten Brücke die zwei mittleren. (Später werden die verschiedenen Versionen erzählt. Die Professoren [Hoops] und Achelis hätten Dossenheim verhandelt, die Amerikaner hätten Schonung Heidelbergs zugesagt, aber verlangt, daß Brücken bleiben. Da man nicht gefunkt, seien Sprengungen erfolgt, während die Parlamentarier auf der Rückfahrt. Andere Lesart: Verhandlungen der Stadtverwaltung mit Oberkommando, das 2 SS-Generale geschickt habe, die Sprengung verlangten; Heidelberg habe vom Krieg sowieso wenig gemerkt.)

Ein Widerstand am Ufer fand offenbar nicht statt. Im Westteil der Stadt sollen Kämpfe mit Amerikanern, die von Wieblingen her kamen, stattgefunden haben. Als ich Samstag [31. 3.] früh in die Stadt ging, war Fährbetrieb und ein Brückenschlag im Anfang. Ausgehzeit 7-17 Uhr, Sonntag 6-17½ Uhr. Am Karfreitag wird südlich des Neckars, von uns aus gesehen, Richtung Plankstadt-Schwetzingen offenbar gekämpft. Von der Situation Mannheim erfährt man nichts. Das Neckartal scheint ab Eberbach in amerikanischer Hand. Konnten die deutschen Odenwaldtruppen noch hinaus? Südlich? Östlich? Das Gerücht taucht wiederholt auf, schon Donnerstag war es da, die Franzosen seien bei Karlsruhe über den Rhein.

Sehr merkwürdig die Nachrichtenlosigkeit. Man weiß nicht, was in der Nähe los ist, noch weniger, was in der Ferne. Verschiedene Erfahrungen mit der Besatzungstruppe: Viele Häuser müssen mit knappen Fristen für 2/3 Tage geräumt werden. Hin- und Herschleppen von Bettzeug, Vorräten usf. Wir holen Sonntagfrüh Sachen bei Ada v. Roeder (auch Herd). Häuser an Verkehrsstraßen bevorzugt. Militär fährt hin und her - auch nordwärts - wohin? Es wird auch am Samstag [31. 5.] südlich und in der Richtung Neckartal-Königsstuhl geschossen. Am Sonntag früh aber sind die Geschütze weg, nachts um 12 Uhr hat es noch einmal einen Mordskrach gegeben. Es flog einige deutsche Granaten in die Stadt. Aber der Schaden ist gering. Am Spätabend in der Richtung Wiesloch sehr große Brände. Aber die Front hat sich in der Ebene offenbar südwärts verzogen. Man ahnt nicht, wie es in der Richtung Kraichgau aussieht, wo ja rückwärtige Stellungen als Westwall-Ersatz schon lange angelegt.

Sonntagmittag [l. 4.] bei Valckenberg, Andreas; von Dr. Wysocki angeblich zutreffende Nachrichten: Danzig gefallen, Küstrin (?), Ratibor, Wiener Neustadt. Genannt als gefallen wurden auch Münster, Paderborn, Fulda, Hersfeld, Eisenach, Nürnberg, von dort gehe (Lesart des Montags) ein Stoß gegen München. Ob das alles stimmt? Aus dem Taunus sei ein deutscher Gegenangriff gegen Frankfurt angesetzt. In welcher Lesart sind uns Vorgänge mitgeteilt? Das ist nicht festzustellen. Die einen sagen, es werde von Straßenkämpfen geredet, die anderen: Heidelberg und Schwetzingen seien „überlassen“ worden, die Amerikaner sollen melden, daß sie Heidelberg „unversehrt“ in Besitz genommen haben.

Man sucht nach Leuten, die Akkumulatoren haben, um das Radio zu hören, findet sie aber noch nicht. In einzelnen Kliniken könne man hören, das ist bis jetzt die Hauptquelle.

Sehr mühselig, da bisher kein Herd, das Kochen in Nachbarhäusern. Man verstaut seine Vorräte und richtet sich auf den Hunger ein. Es ist ungewiß, ob der Oberbürgermeister dablieb und wie die Verwaltung arbeiten mag, zumal neue Kartenperiode bevorsteht und unsicher ist, wie die neuen Rationen sein sollen. Ob man überhaupt etwas darauf bekommt.

Ostermontag [2. 4.] früh die Mitteilung, der Minister Schmitthenner sei auf der Flucht gefangengenommen worden. Eine „Bestätigung“ ist natürlich nicht zu erhalten. Das Straßenbild am Sonntag und Montag überraschend unmilitärisch. Die halbe Bevölkerung trägt Rote-Kreuz-Abzeichen, wie wenn das eine neue Partei wäre. Weiße Fahne nur bei einem Rechtsanwalt; angeblich hat auch der alte Germanist Panzer eine herausgehängt. Soldaten und Bevölkerung nach meinem Eindruck wechselseitig zurückhaltend; junge Mädchen angeblich zudringlich mit Blumenschenken und Zuwinken. Ich habe derlei nicht gesehen.

Ein amerikanisch-polnischer Verband soll sich schlecht aufgeführt haben, aber im ganzen spricht man über höfliche, aber bestimmte Korrektheit. Der Mob soll am Güterbahnhof stark geplündert haben. Ich sah zwei Sammelstellen mit Fremdarbeitern und Arbeiterinnen des Ostens; sie machen keinen „gefährlichen“ Eindruck, sondern sind müde und apathisch. Gelegentlich junge flanierende Franzosen mit der Trikolore am Kragenaufschlag. Ende 3. 4. 45.

Aus: Eberhard Pikart (Herausgeber), Theodor Heuss. Aufzeichnungen 1945-1947. Aus dem Nachlaß von Theodor Heuss. Tübingen 1966, S. 40ff.

>Im Herbst 1943 übersiedelte Theodor Heuss von Berlin nach Heidelberg-Handschuhsheim ins Haus seiner Schwägerin Marianne Lesser-Knapp (Kehrweg 4). Hier schrieb er im Frühjahr 1945 das Vorwort zu seinem Buch „Robert Bosch, Leben und Leistung“ und erlebte die Besetzung durch die Amerikaner.

13. Mai 1953: Festakt aus Anlaß der 150. Wiederkehr des Tages der Erneuerung der Universität durch Großherzog Karl Friedrich von Baden. Rede von Bundespräsident Theodor Heuss im Auditorium maximum:„Liebe ist Dank, Dank ist der Preis“