Heidelberger Geschichtsverein e.V.  HGV

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Wir sind alle ruhig und stolz

Wir haben die Auswanderung nach allen möglichen und unmöglichen Ländern betrieben. Es war fast alles Schwindel. Unsere Amerikanummer 19 823 hatte noch lange keine Aussicht, dran zu kommen. (...)

Und dann kommt der 22. Oktober 1940. Wir sind noch im Bett. Nur Mutti ist auf. Es ist halb acht Uhr. Plötzlich höre ich unbekannte Männerstimmen bei uns im Flur und dann verstehe ich, was sie vorlesen: „Sie haben innerhalb einer Stunde am Bahnhof zu sein. Pro Person sind 50 Kilo Gepäck erlaubt. Verpflegung für 4 Tage.“ Dann folgt noch verschiedenes über Dinge, die mitzunehmen nicht erlaubt sind. Pro Person sind 100 RM gestattet. Sonst nur Ehering, Stahluhr und Gebrauchsgegenstände. - Ich bin ganz erstarrt, springe aus dem Bett, ziehe mich in fliegender Eile an, dicke Wäsche. Lorle steht auch auf, hört und fängt zu weinen an. Dann, ich weiß gar nicht mehr richtig, stehen alle auf, die Großeltern, Papa. Ich koche Kaffee, mache alles verkehrt. Wir fangen an zu packen, warme Sachen, heißt es. Lublin? Im ganzen Haus hört man herumspringen. Unten steht ein Polizist, der niemand raus und rein läßt. Wir packen ganz durcheinander, jeder wirft in den Koffer, was er gerade findet und für recht halt. Ich mache mich an die Eßvorräte, ich packe sie in die Rucksäcke. (...)

Unsere Putzfrau kommt und hat plötzlich einen Wagen, eine Nichte zur Hand, die ihr hilft, alles Verderbliche aus unserer Wohnung zu bringen. Das darf sie nämlich. Wir haben weniger Hilfe an ihr. Das Hausmädchen von E. nimmt einen Korb frischgewaschener Wäsche, geht damit zur Tür hinaus und sagt zu dem Polizisten: “Die gehört mir!“ Sie geht auch an die Wäscheschublade und macht es genau so. Dann werden wir geholt. Ein Polizeiauto fährt vor. Je sechs steigen ein und werden am Bahnhof abgeladen. Wir kommen als letzte vom Haus dran. Wir stehen im Hauseingang und warten. Die Hausschlüssel werden abgeliefert. Ich gehe noch mal rauf und hole in einem Töpfchen die Vollmilch von Lorle. Wir trinken sie noch. Dann kommt das Auto. Wir werden namentlich verlesen und steigen ein. Wir sitzen ungefähr noch 10 Minuten vor der Türe im Wagen und müssen warten, bis das Haus versiegelt ist. Viele Leute gehen vorbei, stehen in der Nähe oder sehen zum Fenster raus. Alle gaffen, manche lachen. Manche sind ernst. Wir sind alle ruhig und stolz.

Am Bahnhof steigen wir aus und werden von Polizei und SS empfangen. In einem Raum muß das Testament gemacht werden, und Papa unterschreibt, daß die Reichsvereinigung sein Vermögensverwalter wird oder so ähnlich. Alle, fast alle unterschreiben es. Dann gehen wir zum Zug. (...) Es ist zwölf Uhr und wir hören, daß der Zug erst um sechs Uhr abgehen soll. Das große Gepäck wird in die Gepäckwagen verladen, nur Rucksäcke, Decken und kleine Koffer dürfen mitgenommen werden. Werden wir unsere Koffer wiedersehen? Man hat schon trübe Erfahrungen gemacht, z.B. bei den Stettinern, die nach Lublin gekommen sind. (...)

Alle schleppen sich ab mit Sachen, die sie in aller Eile zusammengerafft haben. Es ist ein trauriges Bild. Die ganz Alten und Kranken werden mit dem Auto von zwei Sanitätern in einem Krankenstuhl zum Zug gefahren.- (...)

Gegen 6 Uhr sind alle Leute da, man muß einsteigen. Der Zug wird rangiert. Die zwei Teile werden zusammengehängt. Es sind ungefähr 15 bis 20 Wagen voll von nun heimatlosen Menschen, die nur das Allernotwendigste haben, und das manchmal nicht. (...) Nun fahren wir. Es geht das Gerücht: Nach Frankreich, nach Belfort. O Gott, nur nicht nach Polen...

(Aus dem Tagebuch von Miriam Sondheimer, in: Norbert Giovannini, Frank Moraw, Erinnertes Leben. Autobiographische Texte zur jüdischen Geschichte Heidelbergs. Heidelberg 1998, S. 253f.)


„Der 22. Oktober 1940“

Den 22. Oktober 1940 werde ich nie vergessen. In aller Frühe bekam ich schon telefonische Anrufe von Mannheim durch jüdische Freunde: "Wir werden alle abtransportiert nach den Pyrenäen." Das Herz stand mir fast still. Dann erwachte gleich die Frage: Was tun? Sehr schnell konnte ich schon feststellen, daß an dem Befehl nichts mehr zu ändern war. Ich telegrafierte an Probst Grüber in Berlin, meinem Mitkämpfer und Freund, ob er in Berlin etwas erreichen könne. Wir hatten zwei Tage zuvor, am 20. Oktober noch, miteinander beraten, ohne zu ahnen, was da geschehen sollte. Er antwortete mir, daß wir machtlos seien. Es sei eine Sonderaktion für Baden und die Pfalz. Ich suchte dann eine Verbindung mit dem Ökonomischen [sic] Rat und vor allem mit meinem Freund Dr. Adolf Freudenberg in Genf. Aber es ging ja alles viel zu schnell. Der Wagen rollte schon, von einem satanischen System, von den herzlosen Machthabern und ihren Schergen in Gang gehalten. In einer Apotheke verschafften wir uns stark abführend wirkende Medikamente, die wirkten und halfen da und dort in einigen Fällen. "Nicht transportabel" war dann das rettende Urteil. Der ganze Tag galt den Abschiedsbesuchen. Herzzerreißende Szenen erfüllten sie. Wir erlebten menschlich Kleines und menschlich sehr Großes an diesem Tag. Ich fuhr für zwei Stunden nach Mannheim, traf dort meinen heute in Deganja/Israel lebenden 89jährigen Freund, Kinderarzt Dr. Eugen Neter. Er brauchte nicht mitzufahren, da er mit einer Nichtjüdin verheiratet war. Aber er tat es in vollem Einverständnis mit seiner tapferen Frau. Er mußte bei seinen jüdischen Schicksals- und Leidensgenossen bleiben. Auch hat in den 4½ kommenden Jahren dieser Mann unendlich viel für sie in Gurs getan. Ebenso handelte im jüdischen Altersheim Schwester Paula. Sie bezahlte ihren Opfergang mit dem Tode. In gleicher Weise gab sich die von uns allen hochverehrte Heidelberger Kinderärztin Dr. Geismar hin. Sie mußte sich wie so viele von Gurs auch nach Auschwitz verschleppen lassen. Von den erschütternden Abschieden in den Abendstunden dieses furchtbaren Tages, dieses Schandtages und jüdischen Passionstages, will ich nichts mehr sagen. In den kommenden Nächten ließ mich der Selbstvorwurf nicht schlafen, daß ich nicht freiwillig mit gefahren war. Manch eine Botschaft in den kommenden Jahren kam von dort und ging dorthin. Einigen konnte ich zu Pässen und Visen über Marseille und Portugal, über das Weltmeer hinweghelfen. Wir gedenken in Liebe an die, die von Gurs aus in die Todeslager geschleppt wurden, an die, die in Gurs begraben sind, und an die wenigen, die wieder heimfanden.

(aus einer Ansprache von Prälat Hermann Maas im Süddeutschen Rundfunk)

in: Max Ludwig, Aus dem Tagebuch des Hans O. Dokumente und Berichte über die Deportation und den Untergang der Heidelberger Juden. Mit einem Vorwort von Hermann Maas. Heidelberg 1965, S. 9f.