Der Fall Lenard

(aus: Hugo Marx, Der Fall Lenard, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 20. November 1964)

„(...) Schon in der Brückenstraße in Neuenheim begegnete mir ein Beamter der uniformierten Polizei, der mich mit den Worten ansprach: „Wissen Sie schon, Herr Staatsanwalt, was passiert ist? Man hat das Physikalische Institut gestürmt, Professor Lenard herausgeholt und nach dem Gewerkschaftshaus verbracht. Fast hätten sie ihn in den Neckar geworfen, wenn nicht ein paar Gewerkschaftsleute es verhütet hätten."

Wie ich später feststellen konnte, hatte sich folgendes zugetragen:

Carlo Mierendorf hatte sich, nachdem er vergeblich Rektorat und Polizeidirektion zum Einschreiten gegen Lenard zu veranlassen gesucht hatte, mit den Führern der Gewerkschaften in Verbindung gesetzt. Diese ihrerseits riefen ihre Vertrauensleute zusammen, um zu beraten, was zu tun sei. Mierendorf, der an den Beratungen teilnahm, schlug vor, daß die Vertreter der Gewerkschaften mit ihm und der sozialistischen Studentengruppe nach dem Physikalischen Institut gehen sollten, um dort direkt bei Lenard vorstellig zu werden. Dem wurde auch zugestimmt.

Die Nachricht von dem Verhalten Lenards und der beabsichtigten Intervention der Gewerkschaften hatte sich in den Kreisen der Heidelberger Arbeiterschaft rasch herumgesprochen. So kam es, daß eine größere Zahl von Gewerkschaftlern sich im und um das Gewerkschaftshaus herum zusammenfand. Diese Leute schlossen sich ihren Führern an, als diese sich mit Mierendorf zum Physikalischen Institut begaben. Dort waren alle Tore geschlossen und auf Läuten und Rufen öffnete niemand. Mierendorf stellte sich dann auf die hohe Einfassungsmauer und rief mit anderen zusammen das Begehren hinauf, von Professor Lenard empfangen zu werden. Dieses Rufen und Schreien ging etwa eine Stunde lang, ohne daß man vom Institut aus in irgend einer Weise darauf reagierte. Inzwischen hatte die unten wartende Menge aus allen Teilen der Stadt beträchtlichen Zuzug erhalten.

Plötzlich öffneten sich oben im Institut die Fenster und die unten Wartenden glaubten schon erfolgreich zu sein. Indessen bekamen sie nur eine recht kalte Dusche. Lenard hatte die Feuerhydranten anschließen lassen, mit denen seine Assistenten die Menge mit Wasser überschütteten.

Inzwischen drohte die bedenklich angewachsene Menge, unter die sich zweifellos üble, radaulustige Elemente gemischt hatten, von denen es zu jener Zeit eine hinreichende Anzahl gab, die von auswärts gekommen waren, gewalttätig zu werden. Die Rufe: Raus mit dem Lenard! wurden immer lauter. Die Gewerkschaftsleute hatten alle Mühe, die Leute vom Eindringen in das Haus zurückzuhalten. Mit den wenigen Polizisten, die im Hause waren, konnte man nicht daran denken, etwas Ernstliches gegen die Menge zu unternehmen.

Als es der Menge schon gelungen war, ins Treppenhaus vorzustoßen und unübersehbare Gewalttätigkeiten unmittelbar zu befürchten waren, erklärte ich Lenard, es bleibe mir im Interesse seiner persönlichen Unversehrtheit, für die ich verantwortlich sei, nichts anderes übrig, als ihn in Schutzhaft zu nehmen und ihn nach dem Gefängnis zu verbringen, wo er vor Angriffen der Menge geschützt sein werde.

Während Lenard bis dahin apathisch, ohne ein Wort zu sprechen an einem Tisch gesessen hatte, fuhr er mich nun heftig an: „Herr Staatsanwalt. Sie wissen wohl nicht, wem Sie das antun wollen. Sie können es nicht verantworten, mich ins Gefängnis bringen zulassen."

Ich erwiderte ihm, ich wisse ganz genau, welchen großen Respekt man seiner wissenschaftlichen Leistung schulde, zumal ich des öfteren gastweise seine faszinierenden Vorlesungen besucht habe. Aber unter den gegebenen Umständen, die er durch seinen Staatswiderstand selbst geschaffen habe, bleibe mir nichts anderes übrig, als meine Absicht durchzuführen.

Darauf ging ich auf den Balkon hinaus und verlangte gehört zu werden. Da ein großer Teil der Leute mich kannte, trat auch sofort Ruhe ein. Ich erklärte dann kurz, ich werde den Professor ins Gefängnis bringen lassen, ein Auto werde in kürzester Zeit anfahren und man solle ihm Platz zur Anfahrt machen.

Ein rauschendes Beifallklatschen folgte. Ich glaubte schon gewonnenes Spiel zu haben. Das war jedoch eine trügerische Hoffnung. Denn aus der Menge ertönte plötzlich eine schrille Stimme: „Laafe muß er, zu Fuß muß er geh". Das war ein Stichwort, das tausendfältiges Echo weckte. Fast wie ein Sprechchor tönte es herauf: Laafe muß er, laafe muß er!

Ich gab indessen das Spiel nicht verloren und rief hinunter: „Wir werden laufen. Aber Ihr müßt Platz machen.“ Ja, ja! schallte es mir entgegen.

Was dann folgte, mag den Leser wie eine Szene aus einer Schmierenkomödie anmuten. Es war indessen eine todernste Angelegenheit. Ich war mir auch bewußt, daß nicht nur das Leben Lenards, sondern auch mein Berufsschicksal an diesem meinem 30. Geburtstag auf dem Spiele stand.

Im Gange des 1. Stockes bildete ich eine Kolonne: 3 Gewerkschaftsführer, hinter ihnen 2 Polizisten, dann Lenard zwischen mir und einem Wachtmeister und dahinter wieder ein paar besonders handfeste Gewerkschafter.

Überraschenderweise gelang das Manöver. Respektvoll schweigend wurde eine Gasse geöffnet und wir traten, gefolgt von einer tausendköpfigen Menge, den Marsch nach dem Gefängnis an.

Während der Zug seinen Weg durch die Anlage nahm, trennte ich mich nach Verständigung mit dem Wachtmeister an der Sofienstraße unauffällig aus dem Zuge, rannte nach der Polizeiwache am Bismarckplatz, die heute nicht mehr existiert, holte mir dort 2 Polizisten und rannte mit ihnen durch die Hauptstraße dem Gefängnis zu. Unterwegs konnten wir uns noch 3 patroullierende Polizisten anschließen lassen.

Mit den 5 Mann bildete ich an den engen Schläuchen, die am Ende der Seminarstraße durch den Unteren Faulen Pelz und den Treppenaufgang zum Oberen Faulen Pelz, in deren Ecke das Gefängnis liegt, eine Sperrkette und wartete auf der Höhe des Eingangs zum Landgericht auf die Ankunft des Zuges, der sehr gemächlich marschiert war.

Als die Marschkolonne dort ankam, gab ich mit erhobenen Händen den Befehl „Halt!“, der auch ohne Widerstand befolgt wurde. Mit dem Wachtmeister geleitete ich dann Lenard, der keine Schwierigkeiten bereitete, nach dem Gefängnistor. Eine Gruppe von Leuten hatte sich auf der Treppe zum Oberen Faulen Pelz postiert und sahen mit offenbarer Genugtuung Lenard mit mir hinter dem Gefängnistor verschwinden. Das genügte, um die Menge sich verlaufen zu lassen. Daß das Ganze nur ein Scheinmanöver war, um den Dampf der Menge abzulassen, wußte ja außer mir niemand. Ich übergab Lenard dem mir als besonders zuverlässig bekannten Gefängnisaufseher Schuhmacher mit dem Bemerken, er solle Lenard wie ein schalloses Ei behandeln.

Ich konnte am Abend noch den Polizeidirektor erreichen und mit ihm absprechen, was geschehen solle. Lenard wurde in der Nacht in dem Uniformmantel und der Dienstmütze des Gefängnisaufsehers in das Hotel Viktoria geleitet, verbrachte dort die Nacht und konnte andern Morgens in die Arme seiner Frau zurückkehren, die der Polizeidirektor noch in der Nacht persönlich von der Sicherheitsprozedur unterrichtet hatte.

Für mich gab es ein kurzes politisches Nachspiel. Der deutschnationale Parteiführer im badischen Landtag verlangte wegen ungerechtfertigter Inhaftierung Lenards meine Disziplinierung. Der Justizminister lehnte dies mit der Bemerkung ab, die Regierung sei mir zu Dank verpflichtet, daß ich die für Lenard's Leben gefährliche Situation in sachlicher Weise gemeistert habe.

So weit, so gut. Aber in anderer Hinsicht fühlte ich mein persönliches Prestige schwer verletzt. Das Versprechen des Oberstaatsanwalts, daß Lenard zur Rechenschaft gezogen werde, für das er mich als Garant vorgestellt hatte, wurde nie eingelöst. Die Regierung brachte nicht den Mut auf, ihn wegen seiner staatsfeindlichen Gesinnung in irgendwelcher -Weise zu rügen. Auch die Universität hat nichts gegen ihn unternommen. Er blieb in Amt und Ehren.

Viel schlimmer aber war, daß trotz aller meiner Proteste bei den sozialdemokratischen Mitgliedern des badischen Kabinetts, diese es nicht verhinderten, daß der Generalstaatsanwalt den Oberstaatsanwalt anwies, gegen Mierendorf und einige Gewerkschaftsführer Anklage wegen Landfriedensbruch zu erheben, weil sie in das Physikalische Institut eingedrungen waren, um die Halbmastflaggung zu erzwingen. Vergeblich plädierte ich auch bei dem Vorsitzenden der Strafkammer, einem führenden Demokraten mit dem Hinweis, daß Mierendorf und die anderen Angeklagten nur im Interesse des Schutzes der Republik gehandelt hatten und ihnen das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit unter den außerordentlichen Verhältnissen fehlte. Es nutzte alles nichts. Lenard, der Staatsfeind ging straffrei aus. Die Wahrer des republikanischen Interesses wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Ehrend sei abschließend der Universität gedacht. Unter dem Vorsitz des charakterlich großartigen Gerhard Anschütz, der sich des freiheitlichen Geistes der Universität in höchstem Maße würdig erwies, wurde Mierendorf im universitären Disziplinarverfahren freigesprochen. Damit wurde ihm die Möglichkeit des Abschlusses seines Studiums an der Ruperto Carola ermöglicht, die diesem Freiheitskämpfer sicher ein ehrendes Andenken bewahrt.

Hätte die Regierung und die Justizverwaltung ein wenig von der selbstverständlichen Staatsgesinnung bewiesen, der der Kommentator der Weimarer Verfassung zu ihrem Rechte verholfen hat, dann wäre es um das Schicksal der Weimarer Republik besser bestellt gewesen.“