Heidelberger Geschichtsverein e.V.

www.haidelberg.de

Ludwig Merz

Flucht vor den „Schwarzen Dragonern“

Eine Geschichte aus der badischen Revolution

Die folgende Geschichte ist ein Auszug aus unserer Familienchronik. Sie handelt von meinem Großvater mütterlicherseits, Johann Peter Bayer (1824 - 1899), geboren in Walldorf, gestorben in Heidelberg in seiner Wohnung am heutigen Jubiläumsplatz. Ich habe den Großvater nicht gekannt, aber von meinen Eltern vieles über ihn erzählt bekommen. Er hat zunächst das Schneiderhandwerk erlernt. Als er zum Militär eingezogen wurde, kam er dank seiner stattlichen Figur zu den Dragonern. Es war das Regiment der „Gelben Dragoner“. Sie hatten diese Bezeichnung, weil sie am Kragen ihres Uniformrocks gelbe Spiegel trugen. Der Militärdienst des Großvaters fiel also in die Zeit der badischen Revolution von 1848/49. Es war der republikanische Aufstand in Baden und in der bayerischen Pfalz unter Beteiligung des Heeres.

Großherzog Leopold von Baden mußte fliehen. Kronprinz Friedrich versuchte zwar, mit den Aufständischen zu verhandeln, mußte dann aber ebenfalls nach Frankfurt am Main ausweichen. Der Großherzog bat daraufhin die preußische Regierung um militärische Hilfe. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen schickte gut gerüstete Truppen in den Kampf. Unter dem Kommando seines Sohnes, Prinz Wilhelm, dem späteren Kaiser Wilhelm I., wurden erstmals bei der Artillerie Kartätschen eingesetzt. Diese Geschosse waren mit zahlreichen Kugeln gefüllt und hatten dadurch eine erhöhte Wirkung. Kronprinz Wilhelm erhielt jetzt auch bei uns die vorwurfsvolle Bezeichnung „Kartätschenprinz“. Mit Hilfe der Preußen und des Deutschen Bundes wurde der badische Aufstand niedergeschlagen. Die beteiligten „Freischaren“ und die vom Großherzog abgefallenen Soldaten mußten fliehen. Unter ihnen befand sich auch der Dragoner Peter Bayer. Zur Verfolgung der Dragoner wurden die preußischen „Schwarzen Dragoner“ eingesetzt, die so nach ihrem schwarzen Kragenspiegel hießen.

Der Dragoner Peter Bayer fand Zuflucht bei bäuerlichen Verwandten, bei Onkel und Tante in Walldorf. Dort stellte er sein Reitpferd neben dem Ackerpferd des Onkels in den Stall. Darauf ging er in die Scheune, um sich umzukleiden. Um kein Aufsehen zu erregen, blieben Onkel und Tante in ihrer Wohnung. In der Scheune versteckte Peter Montur und Pferdegeschirr in einer Mehlkiste. An der Rückseite der Scheune schob er einige Bretter beiseite und gelangte unbemerkt ins Freie.

Er hatte die Absicht, bei ebenfalls bäuerlichen Verwandten in Rohrbach unterzukommen. Auf dem Weg nach Nußloch kamen ihm bereits Schwarze Dragoner entgegengeritten, die aber von dem Handwerksburschen keine Notiz nahmen, denn er trug ja keinen „Heckerhut mit Feder“. Der Trupp ritt nun auf der Suche nach geflohenen badischen Soldaten in Walldorf ein. So kamen die Reiter auch am Hof von Peters Onkel vorbei. Zu ihrer Überraschung sahen sie dort ein ungeschirrtes Pferd stehen und erkannten sofort, daß es ein Reitpferd und kein Ackergaul war. Darauf durchsuchten sie die Wohnung, wo sie aber keinen Flüchtigen fanden. Das Bauernpaar mußte die Scheune öffnen. Um sich zu vergewissern, stachen sie mit ihren Säbeln überall auf dem Heuboden in das Heu. Man kann sich die Angst von Onkel und Tante vorstellen, die ja nicht wußten, daß Peter geflohen war. Unverrichteter Dinge verließen darauf die Schwarzen Dragoner den Hof und nahmen das ledige Pferd mit.

Peter Bayer arbeitete inzwischen einige Zeit bei seinen Verwandten in Rohrbach, wo ihn niemand als geflohenen Dragoner erkannte. Nach einem Amnestie-Erlaß kehrte er zu seinen Verwandten nach Walldorf zurück. Diese erzählten ihm, was sich zugetragen hatte und welche Ängste sie ausgestanden hatten. Nach herzlichem Dank bei Onkel und Tante entschloß sich Peter Bayer, aufgrund der Amnestie wieder zu seinem Regiment zurückzukehren.

Als Junge habe ich mir diese Rückkehr so vorgestellt: Großvater holte seine Uniform aus der Mehlkiste, bürstete sie säuberlich aus, putzte die hohen Reiterstiefel wieder glänzend, setzte den Helm auf, schnallte den Säbel um und ritt auf Onkels Pferd zurück zu den Gelben Dragonern. Ganz so einfach dürfte sich die Rückkehr allerdings nicht abgespielt haben.

Großvater Bayer blieb über seine verpflichtende Militärdienstzeit hinaus bei den Dragonern. Er diente weiter als sogenannter „Einständer“. Das bedeutet, daß er für andere, die nicht zum Militär wollten, gegen Entgelt als Ersatzmann einsprang. Nach acht Jahren schied er als Wachtmeister aus dem Militärdienst aus und zählte nun zu den „Militäranwärtern“. Damit hatte er den Anspruch, in einen zivilen staatlichen Dienst übernommen zu werden.

An dieser Stelle möchte ich zur Ergänzung eine Mitteilung des Wehrgeschichtlichen Museums in Rastatt wiedergeben. Ich erhielt diese aufgrund meiner Anfrage, die Gelben Dragoner betreffend.

„Aus unseren Unterlagen geht hervor, daß die Gelben Dragoner in der Zeit der Revolution das Dragoner-Regiment von Freystedt Nr. 2 bildeten. Ein Leibregiment gab es zu diesem Zeitpunkt nicht. An der Revolution nahm nur die 4. Eskadron nicht teil. Sie war als Teil der Besatzung der Festung Landau gebunden und somit von der Auflösung der Armee ausgeschlossen. Bei Neuaufstellung der Armee wurde aus ihrem Stamm zunächst das 1. Reiterregiment gebildet (1852), aus dem 1856 das (1.) Leib-Dragoner-Regiment in Mannheim entstand. Seit 1830 gab es ein Garde-Dragoner-Regiment (1832 Dragoner-Regiment Großherzog), allerdings mit weißen Aufschlägen und einer Krone auf der Achselklappe. Daraus wurde 1856 das 3. Dragoner-Regiment Prinz Karl (Bruchsal). „Schwarze Dragoner“ bei den Badenern gab es nicht, in Preußen hatten dafür um so mehr Regimenter schwarze Aufschläge.“

Großvater kam also als Militäranwärter zur Großherzoglich Badischen Staatseisenbahn, Dienststelle Heidelberg. Er heiratete ein Mädchen, ebenfalls aus Walldorf stammend, namens Dorothea Lamade. In ihrer Wohnung gegenüber der heutigen Stadthalle, damals noch „Holzlauer“, wurden ihre Kinder groß, drei Mädchen und ein Junge, unter ihnen auch meine Mutter. Großvater war Eisenbahnschaffner und zeitweilig auch „Bremser“. Dabei hatte er die Aufgabe, am letzten Wagen eines Zuges im „Bremserhäuschen“ eine Wagenbremse zu bedienen. Eines Tages wurde er in einen Eisenbahnunfall verwickelt, der angeblich durch das Nichtbeachten eines Haltesignals verursacht worden war. Dabei warf man ihm vor, er hätte das Signal von dem überhöhten Bremserhäuschen aus sehen müssen. Großvater brach sich durch das Auffahren auf einen stehenden Zug den Arm. Aufgrund dieser Verletzung und im Zusammenhang mit dem Unfall wurde er außer Dienst gesetzt.

Inzwischen stellten Kollegen eine sachverständige Untersuchung an und fanden heraus, daß das Signal nicht wie angegeben auf „Halt“ stand. Sie beantragten bei der Großherzoglichen Kanzlei in Karlsruhe als letzter Instanz eine Revision des Falles. Diese wurde vorgenommen und es stellte sich heraus, daß falsche Aussagen gemacht worden waren. Großvater wurde freigesprochen. Da er wegen seiner Armverletzung keinen Dienst als Eisenbahnschaffner mehr leisten konnte, erhielt er bei der Post eine Stellung als Geldbriefträger. Als solcher ging er auch in den Ruhestand. Mein Vater als Lokomotivführer und Großvater als ehemaliger Eisenbahnschaffner verstanden sich sehr gut. Meine Mutter erzählte, daß die beiden gern miteinander „politisierten“. Dabei sprach mein Vater wohl mehr im Geiste von 1848. Großvater dagegen schätzte den Großherzog sehr, wohl auch im Hinblick auf die Revision seiner Verurteilung und den erfolgten Freispruch. Das Bild des Großherzogs Friedrich von Baden hing im Wohnzimmer der Großeltern. Später wechselte es in die elterliche Wohnung, wo ich es noch gut in Erinnerung habe.

In die Zeit von Großvaters Ruhestand fiel auch die „Affäre Dreyfus“. Sie beschäftigte damals die Öffentlichkeit und auch den Großvater. Dreyfus war französischer Offizier, der der Spionage für Deutschland beschuldigt worden war und in die Verbannung geschickt wurde. Bei der Revision des Falles stellte sich seine Unschuld heraus. Über diesen Fall, wie auch über Recht und Unrecht diskutierten Vater und Großvater zuweilen. Ein Beweis für Großvaters Anteilnahme an der „Affäre Dreyfus“ zeigte sich am Tag seines friedlichen Todes: Er saß im Lehnstuhl, vornübergeneigt, vor ihm lag unter der Brille eine Zeitung. Auf der Zeitungsseite war zu lesen, daß Dreyfus rehabilitiert worden war. Großvater starb genau an seinem 75. Geburtstag, ein Jahr vor der Jahrhundertwende.